Weil es mein moderner Lieblingsroman ist, muss ich hierzu nun meinen ersten Forumsbeitrag schreiben. Ich habe das Buch in meinem Studium in einem (fantastischen) Proseminar gelesen, und es ließ mich seither nie ganz los.
Das soll nun auch gar nicht lang werden, aber die eine Erkenntnis/Interpretationsweise (neben anderen, die ihr ausgeführt habt, und der eines Buches über Verlust und Trauer und Menschlichkeit), die das Buch damals für mich zu einem meiner Lieblingsbücher erhob, war:
VORSICHT SPOILER
Es geht gar nicht um Klone. Also klar, die drei Hauptfiguren sind Klone, aber diese Geschichte interessiert Ishiguro nicht. Diese Geschichte wurde tatsächlich sogar auch erzählt, und zwar im Hollywoodfilm "The Island" mit Ewan McGregor und Scarlett Johansson, der lustigerweise im gleichen Jahr erschien wie der Roman. Da wäre - vielleicht nur für mich - eine Follow-up-Folge von euch beiden zum Film im Vergleich zum Roman hochinteressant. Der Film erzählt genau das, was ihr im Podcast als irritierenderweise fehlend anspracht: Das Aufeinandertreffen mit den "Originalen", das Davonlaufen, die Rebellion.. der Film und das Buch ergeben zusammen ein so interessantes und doch so gegensätzliches, perfektes Paar..
Zurück dazu, dass die Hauptfiguren nicht rebellieren, nicht einmal davonzulaufen versuchen: Das irritiert. Es macht einen
so wütend, dass die Hauptfiguren ihr Schicksal einfach hinnehmen. Dass sie einfach mitspielen, dass sie zwar versuchen, ihr Leben ein bisschen zu verlängern, aber ihr ihr finales Schicksal nicht hinterfragen., Sie nehmen es hin, sie gehen sehenden Auges darauf zu, ohne zu rebellieren, ohne auszubrechen.
Das sind wir. Wir Menschen. Ihr kamt dieser "Parabeldeutung", die auch im Seminar damals ihren Platz hatte, immer wieder nah, ohne sie zu benennen, daher will ich sie als Interpretationsvorschlag benennen. Ihr spracht an, wie selbstverständlich Kathy, Ruth und Tommy leben, als wie selbstverständlich sie ihr Schicksal annehmen. Das sind wir in unserem Bewusstsein unserer Sterblichkeit. Ihr spracht an, dass sie immer ein wenig mehr von dem erfahren, was ihr finales Schicksal sein wird, als sie noch zu jung sind, um es voll zu erfassen. Das sind unsere ersten Berührungen mit dem Tod, wenn Urgroßeltern oder Großeltern sterben und wir das Konzept der Sterblichkeit noch nicht fassen können (ich erinnere mich gut an diese innere Leere, als ich gerade 5 Jahre alt war und meine Opa starb..). Die behütete Kindheit in Hailsham, in der sie zwar diffus um ihr Ende wissen, das aber keinerlei Rolle spielt, ist unsere Kindheit, in der wir nicht an unsere Sterblichkeit denken.
Und die Rolle der Kunst im Roman trifft die in der Realität. Ishiguro strich die andere Variante, sich "unsterblich zu machen", wie man gern sagt, die Fortpflanzung. Der Wunsch von Kathy und Tommy, sich durch Kunst ein paar Jahre mehr zu erkaufen, ein bisschen ihrer sicheren Sterblichkeit zu entkommen, ist unser Kunstschaffen, mit dem wir etwas zurücklassen, was uns - hoffentlich - überdauert. Was unser Leben auch lebenswerter macht. Die Nüchternheit des Stils, in dem Kathy erzählt, trifft die harte Wahrheit des menschlichen Lebens, dass das Leben nur eine Aneinanderreihung von Stoffwechselvorgängen ist, die irgendwann endet. Dass wir dem Leben Bedeutung geben, ist wie eine Illusion, die wir nicht hinterfragen, die uns wichtig ist, die wir brauchen, um Menschen und menschlich zu sein.
Das ist jetzt nicht die allertiefste Botschaft, das Buch geht da nicht auf tiefe, philosophische Themen ein, aber diese Deutung verändert in meinen Augen den Roman nochmal komplett.
Zu Sebastians Anmerkung zum Stil des Romans und der Erzählung der fiktiven Erzählerin: Es ist so fantastisch, wie "Kathy" einen Leser adressiert, der alles über ihre Welt weiß, und wie sich erst nach und nach alles in Details öffnet.
Noch ein finaler Punkt dazu, das sei keine Science Fiction sondern der Autor wolle zeigen, dass das der Roman eines Nobelpreisträgers ist - Preisträger wurde er erst 12 Jahre nach Erscheinen des Romans:)
“I saw a new world coming rapidly. More scientific, efficient, yes. More cures for the old sicknesses. Very good. But a harsh, cruel, world. And I saw a little girl, her eyes tightly closed, holding to her breast the old kind world, one that she knew in her heart could not remain, and she was holding it and pleading, never to let her go.”
Bei dem Zitat habe ich mich in das Buch verliebt, hatte Tränen in den Augen. Das Buch ist so nüchtern, bis auf zwei Stellen - diese und das Ende. Die zitierte Stelle trifft einen mit solcher Wucht, dass ich den Kloß im Hals spüre, wenn ich nur an sie denke.