Folge 75: Alles, was wir geben mussten (mit Sebastian Stange)

Hier wird über die aktuelle Folge diskutiert. Und über alle anderen natürlich auch.
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falko
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Folge 75: Alles, was wir geben mussten (mit Sebastian Stange)

Beitrag von falko »

Jochen ist auf dem Sprung in den Urlaub, und alles, was er geben musste, war eine Kurtaxe. Falko urlaubt (noch) nicht, und unser regelmäßiger Gaststar Sebastian Stange ebenso wenig. Also hat Falko auf Sebastians Empfehlung hin das Buch von Kazuo Ishiguro gelesen, das 2005 erschienen ist und bei ihm einen tiefen Eindruck hinterlassen hat. Nicht nur bei ihm – Ishiguro hat 2017 den Literatur-Nobelpreis erhalten. Darin erzählt eine junge Frau von ihrer Kindheit im abgelegenen Internat Hailsham und ihre Vorbereitung auf ein Leben als “Spender”. Was das genau bedeuten soll … das erzählt das Buch unspektakulär und lakonisch, aber intensiv.

Es ist keine Effektheischerei, kein großes Drama, kaum eine Überraschung, worum es in dem Buch wirklich geht, daher haben wir in dieser Folge eine weiche Spoilerwarnung für diejenigen, die komplett unvoreingenommen an das Buch rangehen wollen. Ein falscher Blick in eine Inhaltsangabe, und zack, man weiß es. Und man kann es sich sehr leicht zusammenreimen. Allerdings mindert das nicht die Intensität des Buches, weswegen wir in der Folge schon früher als sonst frei von der Leber weg alles erzählen.

Viel Spaß mit der neuen Folge!

Folge 75: Alles, was wir geben mussten (mit Sebastian Stange)
"I must say I find television very educational. The minute somebody turns it on, I go to the library and read a good book." - Groucho Marx
Lawnanas
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Re: Folge 75: Alles, was wir geben mussten (mit Sebastian Stange)

Beitrag von Lawnanas »

Weil es mein moderner Lieblingsroman ist, muss ich hierzu nun meinen ersten Forumsbeitrag schreiben. Ich habe das Buch in meinem Studium in einem (fantastischen) Proseminar gelesen, und es ließ mich seither nie ganz los.

Das soll nun auch gar nicht lang werden, aber die eine Erkenntnis/Interpretationsweise (neben anderen, die ihr ausgeführt habt, und der eines Buches über Verlust und Trauer und Menschlichkeit), die das Buch damals für mich zu einem meiner Lieblingsbücher erhob, war:

VORSICHT SPOILER

Es geht gar nicht um Klone. Also klar, die drei Hauptfiguren sind Klone, aber diese Geschichte interessiert Ishiguro nicht. Diese Geschichte wurde tatsächlich sogar auch erzählt, und zwar im Hollywoodfilm "The Island" mit Ewan McGregor und Scarlett Johansson, der lustigerweise im gleichen Jahr erschien wie der Roman. Da wäre - vielleicht nur für mich - eine Follow-up-Folge von euch beiden zum Film im Vergleich zum Roman hochinteressant. Der Film erzählt genau das, was ihr im Podcast als irritierenderweise fehlend anspracht: Das Aufeinandertreffen mit den "Originalen", das Davonlaufen, die Rebellion.. der Film und das Buch ergeben zusammen ein so interessantes und doch so gegensätzliches, perfektes Paar.. :)

Zurück dazu, dass die Hauptfiguren nicht rebellieren, nicht einmal davonzulaufen versuchen: Das irritiert. Es macht einen so wütend, dass die Hauptfiguren ihr Schicksal einfach hinnehmen. Dass sie einfach mitspielen, dass sie zwar versuchen, ihr Leben ein bisschen zu verlängern, aber ihr ihr finales Schicksal nicht hinterfragen., Sie nehmen es hin, sie gehen sehenden Auges darauf zu, ohne zu rebellieren, ohne auszubrechen.

Das sind wir. Wir Menschen. Ihr kamt dieser "Parabeldeutung", die auch im Seminar damals ihren Platz hatte, immer wieder nah, ohne sie zu benennen, daher will ich sie als Interpretationsvorschlag benennen. Ihr spracht an, wie selbstverständlich Kathy, Ruth und Tommy leben, als wie selbstverständlich sie ihr Schicksal annehmen. Das sind wir in unserem Bewusstsein unserer Sterblichkeit. Ihr spracht an, dass sie immer ein wenig mehr von dem erfahren, was ihr finales Schicksal sein wird, als sie noch zu jung sind, um es voll zu erfassen. Das sind unsere ersten Berührungen mit dem Tod, wenn Urgroßeltern oder Großeltern sterben und wir das Konzept der Sterblichkeit noch nicht fassen können (ich erinnere mich gut an diese innere Leere, als ich gerade 5 Jahre alt war und meine Opa starb..). Die behütete Kindheit in Hailsham, in der sie zwar diffus um ihr Ende wissen, das aber keinerlei Rolle spielt, ist unsere Kindheit, in der wir nicht an unsere Sterblichkeit denken.
Und die Rolle der Kunst im Roman trifft die in der Realität. Ishiguro strich die andere Variante, sich "unsterblich zu machen", wie man gern sagt, die Fortpflanzung. Der Wunsch von Kathy und Tommy, sich durch Kunst ein paar Jahre mehr zu erkaufen, ein bisschen ihrer sicheren Sterblichkeit zu entkommen, ist unser Kunstschaffen, mit dem wir etwas zurücklassen, was uns - hoffentlich - überdauert. Was unser Leben auch lebenswerter macht. Die Nüchternheit des Stils, in dem Kathy erzählt, trifft die harte Wahrheit des menschlichen Lebens, dass das Leben nur eine Aneinanderreihung von Stoffwechselvorgängen ist, die irgendwann endet. Dass wir dem Leben Bedeutung geben, ist wie eine Illusion, die wir nicht hinterfragen, die uns wichtig ist, die wir brauchen, um Menschen und menschlich zu sein.
Das ist jetzt nicht die allertiefste Botschaft, das Buch geht da nicht auf tiefe, philosophische Themen ein, aber diese Deutung verändert in meinen Augen den Roman nochmal komplett.


Zu Sebastians Anmerkung zum Stil des Romans und der Erzählung der fiktiven Erzählerin: Es ist so fantastisch, wie "Kathy" einen Leser adressiert, der alles über ihre Welt weiß, und wie sich erst nach und nach alles in Details öffnet.


Noch ein finaler Punkt dazu, das sei keine Science Fiction sondern der Autor wolle zeigen, dass das der Roman eines Nobelpreisträgers ist - Preisträger wurde er erst 12 Jahre nach Erscheinen des Romans:)


“I saw a new world coming rapidly. More scientific, efficient, yes. More cures for the old sicknesses. Very good. But a harsh, cruel, world. And I saw a little girl, her eyes tightly closed, holding to her breast the old kind world, one that she knew in her heart could not remain, and she was holding it and pleading, never to let her go.”
Bei dem Zitat habe ich mich in das Buch verliebt, hatte Tränen in den Augen. Das Buch ist so nüchtern, bis auf zwei Stellen - diese und das Ende. Die zitierte Stelle trifft einen mit solcher Wucht, dass ich den Kloß im Hals spüre, wenn ich nur an sie denke.
Lawnanas
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Re: Folge 75: Alles, was wir geben mussten (mit Sebastian Stange)

Beitrag von Lawnanas »

Das Buch ist eigentlich die Antithese zu Dylan Thomas' "Do not go gentle into that good night. Rage, rage against the dying of the light.", das durch den Film Interstellar in aller Munde war, fiel mir gerade auf. Mach deinen Frieden mit der unentrinnbaren Nacht am Ende, du lebst immer in dem Bewusstsein des Todes am Ende, nutze die Zeit bis dahin, um dein Leben lebenswert zu machen und auf diese oder jene Art zu überdauern. Ein sehr, sehr nüchterner Hauch "Carpe diem".
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falko
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Re: Folge 75: Alles, was wir geben mussten (mit Sebastian Stange)

Beitrag von falko »

Danke für die Ausführungen! Ich kann nachvollziehen, dass das Buch für viele Leute ein absoluter Volltreffer ist und ein Lieblingsbuch werden kann.

Das Parabelhafte ist etwas, das es mir persönlich schwer macht, einen echten Zugang zum Buch zu finden, weil ich es dadurch auf einer rationalen Ebene lese. Es schwingt immer ein analytischer Nihilismus mit, der bei mir für Distanz sorgt. Ich glaube, ein Lieblingsbuch wird eines dann, wenn die eigene Weltsicht exakt auf der gleichen Frequenz funkt wie das Buch im Moment des Lesens. Da sich die eigene Weltsicht im Laufe eines Lebens ändert, ändert sich auch die Lesart eines Buches (und ich habe im Podcast ja schon einige Lieblingsbücher "verloren" :D ). Dieses Buch hat einen so eigenen Charakter, so eine individuelle Frequenz, dass es bei einigen Leuten, wie bei dir eben, perfekt passen kann.

Den erwähnten Film kenne ich, aber hatte ich inzwischen völlig verdrängt. Habe ihn grob in Erinnerung, wie du es beschreibst - schon eher ein krawalliges Hollywood-Vehikel. Bin mir nicht sicher, ob der Vergleich da angemessen wäre - oder ob wir dann einen Drohbrief von Ishiguro erhalten. :D
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Shenmi
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Re: Folge 75: Alles, was wir geben mussten (mit Sebastian Stange)

Beitrag von Shenmi »

Lawnanas hat geschrieben: Mo 19. Jul 2021, 20:03
Erstmal, ein ganz toller Text, aus dem ich mir ein paar Beobachtungen herausgreifen möchte.

VORSICHT SPOILER

Es geht gar nicht um Klone. Also klar, die drei Hauptfiguren sind Klone, aber diese Geschichte interessiert Ishiguro nicht.
Jedenfalls nicht ihre Besonderheiten, was sie unterscheiden und abgrenzt. Im Gegenteil, Ishiguro führt uns ja gerade vor, dass es sich um ganz normale Jugendliche handelt, mit ganz alltäglichen Problemen, Ängsten und Sorgen. Nur eben ohne eine Zukunft.
Als Clone benötigt er sie nur, um sie der Gesellschaft gegenüberzustellen, ihrer angeblichen Moral und Ethik. Ich fand es ganz wunderbar, wie er das später durch "Madame" konterkariert. Die Dame lebt ja auch in dem Glauben, besonders gut und edel gewesen zu sein, in Ihrer Tätigkeit.
Wie selbstgerecht sie eigentlich ist, wird dann auch nochmal deutlich, wenn sie ihnen gönnerhaft die Wahrheit sagt und immer wieder darauf verweist, wie sie gekämpft hat, damit es den Kids von Hailsham "gut" geht. Das ist so perfide, aber es hat mir auch so toll gefallen, wie Ishiguro das herausgearbeitet hat!
Zurück dazu, dass die Hauptfiguren nicht rebellieren, nicht einmal davonzulaufen versuchen: Das irritiert. Es macht einen so wütend, dass die Hauptfiguren ihr Schicksal einfach hinnehmen. Dass sie einfach mitspielen, dass sie zwar versuchen, ihr Leben ein bisschen zu verlängern, aber ihr ihr finales Schicksal nicht hinterfragen., Sie nehmen es hin, sie gehen sehenden Auges darauf zu, ohne zu rebellieren, ohne auszubrechen.
Darüber habe ich mit meiner Frau auch diskutiert. Hier schlägt sich vielleicht der ganze Zynismus und die Menchenverachtung nieder, die in Hailsham praktiziert wird. Falco meinte ja, wir begleiten die Kinder bei Alltäglichkeiten und sie blasen Nichtigkeiten zu halben Staatsaffären auf.
Mir ist das auch aufgefallen, ich denke aber, hier zeigt uns Ishiguro beide Seiten einer Medaille gleichzeitig:
Die naiven Jugendlichen, die in ihrer Entwicklung eingebremst werden. Sie werden dumm gehalten, man erzählt ihnen nur was sie wissen müssen, damit sie mental auf ihre Organspenden vorbereitet sind und keine Zicken machen.
Denn, wenn man ehrlich ist, hält man sie dort wie Vieh - auch wenn die schöne Umgebung und die netten Tanten darüber hinwegtäuschen sollen. Das Lamm darf das Messer nicht sehen, sonst verdirbt das Fleisch! Hier prallen dann (halb)kindliche Naivität auf den brutalen Zweck dieser Einrichtung. Einfach genial!
Bei dem Zitat habe ich mich in das Buch verliebt, hatte Tränen in den Augen. Das Buch ist so nüchtern, bis auf zwei Stellen - diese und das Ende. Die zitierte Stelle trifft einen mit solcher Wucht, dass ich den Kloß im Hals spüre, wenn ich nur an sie denke.
Genau das liebe ich an Ishiguro so. In den Büchern, die ich bisher gelesen habe, bedient er sich dieser unprätentiösen Sprache, die auf den ersten Blick sehr einfach wirkt. Reiht man nur die Buchstaben aneinander, passiert tatsächlich nicht viel. Und dann wird der Stoff auch langweilig, denn die Bücher dienen nicht der Unterhaltung. Ich brauchte auch etwas, bis ich das verstanden habe.
Was mich so beindruckt ist eben, dass er trotz dieser präzisen Nüchternheit so wortgewaltig ist - denn hier würde ich Falco widersprechen wollen.
Man findet keine Gewaltexzesse oder plakative Erklärungen, die einen auf das Relevante hinweisen. Und trotzdem schafft es Ishiguro, in mir solche großen Gefühle zu erzeugen. Never let me go wirkt sehr düster, ohne all diese Stilmittel. Dennoch mutet es niemals depressiv oder verzweifelt an, es hat immer einen sehr warmen Unterton.

P.S. Eine ähnliche Wucht konnte bei mir Donald Ray Pollock mit seinem "The devil all the time" erzeugen, auch wenn der sich durchaus der Gewalt bedient. Oder eben Margaret Atwood in "The handmaids tale" - einer des besten Romane die je geschrieben wurden. Da bin ich ganz sicher.
Ich bin eitel, hochmütig, tyrannisch, blasphemisch, stolz, undankbar, herablassend-bewahre aber das Aussehen einer Rose" - Pita Amor
Rina
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Registriert: Do 8. Okt 2020, 09:41

Re: Folge 75: Alles, was wir geben mussten (mit Sebastian Stange)

Beitrag von Rina »

Vielen Dank für die hörenswerte Folge!
Ich habe das Buch im Frühjahr gelesen und meine Eindrücke decken sich so ziemlich mit dem, was Sebastian ausführt, vom grundsätzlich eher unangenehmen Bauchgefühl beim Lesen bis hin zur Wut gegen Ende angesichts der Schicksalergebenheit der Protagonistin.
Ein eindrucksvolles Buch, das mit üblichen Lesegewohnheiten bricht und lange nachwirkt.
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