Jack Ketchum - Evil

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Vinter
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Jack Ketchum - Evil

Beitrag von Vinter »

Ahoi,

nachdem neulich Jack Ketchums Evil in aller Ausdrücklichkeit nicht empfohlen wurde, obwohl es ein lesenswertes Buch sei, hab ich es mir besorgt, ohne zu wissen, worum es überhaupt geht. Durchgelesen habe ich es an den vergangenen zwei Abenden. Hier mal ein paar Dinge, die mich beschäftigen. Spoiler, offensichtlich.

1) Während der ersten Hälfte des Buches war ich zunächst etwas irritiert, wie lustvoll Jack Ketchum die Körper junger, pubertierender Mädchen beschreibt. Dann ist mir jedoch klar geworden, dass die Geschichte aus der Perpektive eines Zwölfjährigen geschrieben ist. Man mag das erfolgreich verdrängen, aber Jungs in dem Alter sind besessen von nackten Körpern und allem, was mit Sex zu tun hat. Und es ist ja auch klar: Auch wenn sich kulturell die Grenze der Sexualität um ein paar Jahre nach hinten verschoben hat, rein biologisch werden Kinder in dem Alter geschlechtsreif. Insofern hat sich meine Sicht auf diesen Aspekt des Buches dann auch gewandelt: Eigentlich ziemlich authentisch, was er da beschreibt, wenn auch natürlich unangenehm.

2) Etwa ab der Mitte des Buches eskaliert die Situation. Natürlich ist dem Leser an der Stelle bereits klar, in welche Richtung dass alles geht, denn Meg wird ja auch vorher bereits mindestens psychisch misshandelt. Und obwohl Jack Ketchum die Gewalt teils extrem explizit beschreibt, hatte ich den Eindruck, dass er es - anders als in dem obigen Teil - gerade nicht lustvoll tut. Evil ist kein voyeuristisches Buch, sondern ein erschreckendes. Es gibt sicherlich zahlreiche Möglichkeiten, Folter poetisch zu beschreiben, Ketchum tut das nie. Im Gegenteil: Mehrmals zieht sich Ich-Erzähler David für mehrere Tage vom Keller der Chandlers zurück und Ketchum beschreibt erst bei seiner Rückkehr die Auswirkungen und Spuren, welche die letzten Tage an Meg hinterlassen haben, nicht aber, wie es dazu gekommen ist. An einer Stelle überspringt er die Beschreibungen von Gewalt sogar und nennt sie explizit "unbeschreibbar". Ich habe teils Rezensionen von Lesern entdeckt, die das Buch als "ekelig", "pervers", "geschmacklos", "dümmlich" etc beschreiben. Das habe ich so nicht empfunden: Der Autor ergeht sich nicht in Gewaltphantasien, sondern schildert die Misshandlungen eher neutral. Extrem unangenehm bleibt sie deshalb natürlich trotzdem, aber es ist kein Gewaltporno.

3) Einen großen Kritikpunkt habe ich: Evil ist nicht kompromisslos genug. Es lässt Ich-Erzähler David viel zu leicht vom Haken. Er ist genauso mitschuldig. Er war genauso begierig darauf, sich an Megs Körper zu ergötzen, die Misshandlungen zu betrachten. Doch Ketchum will scheinbar nicht, dass der Leser das Buch verlässt und jede der handelnden Personen hasst, so wie es der Geschichte gerecht geworden wäre. Stattdessen muss für David ein Redemption Arc herbei, und verdammt nochmal, Ketchum schießt damit vollständig übers Ziel hinaus.

Irgendwann drifted Ketchum nämlich von der bis dato recht glaubwürdigen Beschreibung der Dynamiken so einer Folter-Verschwörung in die überlebensgroße, king'sche Art und Weise ab, Kinder zu beschreiben. David wird plötzlich vom Komplizen zum Helden, der mitten in der Nacht ins Haus der Chandlers einbricht um Meg zu retten. Das geht zwar schlussendlich schief, aber damit ist sein Weg zurück auf die gute Seite vorgezeichnet. Und ich glaube das einfach nicht. Ich glaube, dass David Meg dieses Versprechen gibt, ich glaube, dass David mittlerweile selbst entsetzt ist, aber ich glaube Ketchum nicht, dass David sich zum Helden aufschwingt und tatsächlich selbst handelt. Ich glaube nicht, dass er seinen Rettungsversuch am Ende tatsächlich startet. Ich hätte geglaubt, wenn er zu feige ist, im Bett bleibt und dadurch erst Recht Megs unausweichliches Ende als Last auf dem Gewissen trägt. Genausowenig, wie ich ihm etwas später glaube, wie David Feuer legt und anfängt, gegen Ruth und zwei ihrer Söhne zu kämpfen. Hier ist plötzlich wieder Stephen King am Werk und nicht Jack Ketchum, der die ersten 80% des Buchs geschrieben hat.

Am Ende des Buches, kurz bevor sie ihren Misshandlungen erliegt, wird David dann auch erst von Meg selbst erlöst: Wichtig wäre nur, wie man sich am Ende verhält. Und in mir schreit es "Nein, nein, nein, du bist noch immer Mittäter!". Dabei wäre dieser Weg sogar gangbar: Gut vorstellbar, dass eine über Wochen Gefolterte dankbar ist, wenn ihr plötzlich von einem ihrer Peiniger zumindest ein wenig Mitgefühl entgegen schlägt. Nur: Das Buch verdient sich diese Interpretation leider überhaupt nicht. Man merkt Meg die dauerhaften psychischen Folgen der Folter nicht an, das irrationale, was in so einer Beziehung existieren müsste, damit sie einem ihrem Folterer dankbar sein kann. Meg ist ihm nicht dankbar, weil sie aus einer Missbrauchssituation nach jedem Strohhalm greift, sondern weil David zum Helden werden muss.

Kurz darauf darf David auch gleich noch Rache üben und Ruth durch deinen Stoß auf der Treppe umbringen. Gedeckt wird er dabei ausgerechnet von einem Polizisten. Auch für Susan, der kleine Schwester von Meg, darf David zum Verbündeten werden, wenn sie sich am Ende in den Armen liegen und weinen. Und selbst da macht Ketchum immer noch nicht halt, sondern lässt ganz am Ende sogar noch den erwachsenen David auftreten, der mittlerweile ein erfolgreiches Leben als Wallstreet-Makler führt (aber nicht ganz erfolgreich, er ist mittlerweile zweimal geschieden, der Schlingel!), während Woofer, einer der Söhne von Ruth, natürlich zwangsläufig zum Mädchenmörder werden musste, der in der Zeitung ausgestellt wird und durch den Kontrast Davids Schuld nochmal abschwächt. Das David am Ende keine Medaille erhält und heilig gesprochen wird, ist aber auch schon alles.

Dennoch: Am Ende ein beeindruckendes Buch, im weitesten Sinne des Wortes. Es war das letzte, woran ich dachte als ich gestern eingeschlafen bin und das erste, über das ich nach dem wachwerden nachgedacht habe. Ich würde es nur nicht unter Horror einsortieren: Dafür ist Evil viel zu ernst. Ihm fehlt völlig die Leichtigkeit und Albernheit, das von der Realität entkoppelte, was unterbewusst immer im Horror mitschwingt.
Shenmi
Beiträge: 187
Registriert: Sa 23. Mär 2019, 11:06

Re: Jack Ketchum - Evil

Beitrag von Shenmi »

Für mich ist "Evil" tatsächlich eines der Bücher, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.
Der Anfang ist ja noch harmlos und erinnerte mich sehr stark an Stephen King. Was dann kam habe ich überhaupt nicht erwartet und es hat mich so schockiert, dass ich immer überlegt habe, ob ich das Buch abbreche.
Jack Ketchum hat es aber geschafft, bei mir dieses Gefühl zu erzeugen, dass solche Dinge auch in der Nachbarschaft passieren könnten und ich nicht wegsehen darf. Ich habe beim Lesen wirklich geweint und die Abschnitte wurden dann auch immer kleiner. Zum Schluss habe ich es nur noch in kleinen Abschnitten gelesen und viel geweint.
Trotzdem ist die Schonungslosigkeit richtig gewesen und das dem Leser/der Leserin nichts erspart bleibt. Ich finde, Evil ist ein ganz wichtiges Buch, dass ich aber nur wenigen Leuten empfehlen würde.
Eigentlich hatte ich vor einiger Zeit mal vorgehabt, es nochmal zu lesen. Ich wollte nämlich den Aufbau studieren und wie der Autor es geschafft hat, mich so gefangen zu nehmen. Aber ich konnte es einfach nicht. Wenn ich am Anfang diese scheinbare Idylle vorgesetzt bekomme, in dem Wissen was passieren wird, drehte sich mir schon der Magen um.

Noch ein Satz zu Jack Ketchum: Ich habe mir danach ein paar andere Werke von ihm angesehen und die haben mich fast alle enttäuscht.
Die meisten waren leider nur eine Aneinanderreihung von Grausamkeiten, die irgendwann aber in der Summe, ihre Wirkung verloren haben.
"Evil" ist wahrscheinlich sein bestes Buch und ein Glücksgriff gewesen. Man sollte auch den guten Rat beherzigen und das Vorwort von Stephen King hinterher lesen. Warum sie das vor die Geschichte gesetzt haben, ist mir bis heute unverständlich.
Ich bin eitel, hochmütig, tyrannisch, blasphemisch, stolz, undankbar, herablassend-bewahre aber das Aussehen einer Rose" - Pita Amor
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