Folge 115: Nichts

Hier wird über die aktuelle Folge diskutiert. Und über alle anderen natürlich auch.
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falko
Beiträge: 584
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Folge 115: Nichts

Beitrag von falko »

Am ersten Tag des neuen Schuljahres verkündet Pierre Anthon, dass nichts in der Welt etwas bedeutet und in Wirklichkeit sinnlos ist. Dann setzt er sich auf einen Pflaumenbaum und verhöhnt alle, die weiter ihrem Alltag nachgehen. Die anderen in der Klasse machen es sich zur Aufgabe, ihn davon zu überzeugen, dass das nicht stimmt. Sie wollen einen "Berg aus Bedeutung" anhäufen, bei dessen Anblick Pierre Anthon nicht anders kann, als Sinnhaftigkeit zu empfinden. Doch je persönlicher die Dinge sind, die sie zu diesem Berg beitragen, desto tiefer verletzen sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig ... bis alles eskaliert.

Janne Tellers Werk "Nichts" ist einerseits ein sogenanntes Skandalbuch, aber auch eines, das oft in Schulen besprochen wird. Falko hat Janna Krone eingeladen, um darüber zu besprechen. Sie ist Deutschlehrerin und kann darüber berichten, wie sie mit diesem Buch im Unterricht umgehen würde. Und natürlich beurteilen sie das Buch jenseits des Klassenzimmers.

Viel Spaß mit dieser neuen Folge!

Folge 115: Nichts
"I must say I find television very educational. The minute somebody turns it on, I go to the library and read a good book." - Groucho Marx
JohannesRH
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Re: Folge 115: Nichts

Beitrag von JohannesRH »

Ich habe das Buch nicht gelesen, aber wie ihr es beschrieben habt, klingt es sehr sehr dumm. Das Buch scheint nihilistisch zu sein, auf eine sehr edgy und faule Art. Ich glaube nicht, dass es Kindern viel bringt, wenn man das Buch im Unterricht behandelt. Es ist ja OK zu sagen, dass es keine objektive Wahrheit oder höheren Sin gibt aber dann muss man sich aber auch damit beschäftigen, dass sich Menschen selber Bedeutung und Sinn geben und dieser für sich selbst stehen kann.

Dies wird aber, wie es scheint, von dem Buch nur mit Gewalt und Spektakel beantwortet: "Wer versucht Sinn zu schaffen ist ein Idiot, wer die Wahrheit sagt, dass es keinem Sinn gibt, wird verfolgt!". Der Berg der Schätze könnte eine gute Möglichkeit sein, darüber zu sprechen, was den Menschen wichtig ist (Familie, Liebe, Hobbys) und was vielleicht gar nicht so Wichtig ist (Geld, Anerkennung, Schönheit). Aber anstelle eines Museums des Sinns, wird es ein Altar, auf dem Sinn genommen, zerstört, geopfert wird.

Und ich kann den Sinn der Handlung nicht erkennen. Die Kinder wollen doch zeigen wie viel Sinn es im Leben gibt und dann sagen sie: "Hier ist der abgeschlagene Finger eines Musikers, der niemals wieder Musik spielen kann. Siehst du wie Sinnvoll das ist?".

Oder das gestohlene Kreuz: Wären die Kinder zum Pfarrer gegangen und hätten gesagt, dass sie eine Sammlung von Sinn-Gegenständen erschaffen wollen, hätte sich doch jeder Pfarrer darüber gefreut, dass die Kinder Religion als etwas sinnstiftendes empfinden. Sie hätten vielleicht nicht das original Kreuz kommen aber doch einen ersatzgegenstand. Aber das währe ja nicht Kontrovers gewesen.

Jedes Kind hätte einen Gegenstand zeigen können und sagen können "Dies ist mir wichtig weil...". Stattdessen wird Sinnstiftung hier doch verhöhnt.

Ich persönlich bin ja ein Existentialist: "If nothing we do matters, all that matters is what we do."

Menschen haben Wünsche, erzählen sich Geschichten und ihre Taten haben folgen. Daraus entsteht Sinn, den ich für komplett ausreichend empfinde.

Würden Kinder in der Schule "Everything Everywhere All at Once" sehen, anstelle das Buch zu lesen, würden sie sehr wahrscheinlich mehr viel mehr über Nihilismus und Existentialismus lernen.

Auch wenn man Sinn komplett ablehnt, gibt es noch die Philosophie des Absurden, dass man die Absurdität des Lebens, die Abwesenheit eines Sinns, akzeptiert und das beste daraus macht.
Ironic Maiden
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Re: Folge 115: Nichts

Beitrag von Ironic Maiden »

JohannesRH hat geschrieben: Fr 12. Mai 2023, 18:56 Ich habe das Buch nicht gelesen, aber wie ihr es beschrieben habt, klingt es sehr sehr dumm. Das Buch scheint nihilistisch zu sein, auf eine sehr edgy und faule Art. Ich glaube nicht, dass es Kindern viel bringt, wenn man das Buch im Unterricht behandelt. Es ist ja OK zu sagen, dass es keine objektive Wahrheit oder höheren Sin gibt aber dann muss man sich aber auch damit beschäftigen, dass sich Menschen selber Bedeutung und Sinn geben und dieser für sich selbst stehen kann.
Ich kann deine Einwände komplett verstehen, allerdings sehe ich das gerade auch als Chance, warum man das Buch im Unterricht lesen kann. Eben weil keine eindeutige Antwort gibt, oder diese einfach mit Absicht verweigert. Die Beschäftigung mit dem, was den Schüler*innen Sinn und Bedeutung gibt, kann dann genau aus der Kritik am Buch erwachsen.

"Die Leiden des jungen Werthers" ist ja auch kein besonders gutes Modell dafür, wie man mit unglücklicher Liebe umgehen sollte, aber es geht mir bei der Behandlung im Unterricht auch nicht unbedingt darum, dass die Schüler*innen Weisheit aus den Büchern ziehen, sondern ihre eigenen Werte und Vorstellungen in der Auseinandersetzung schärfen können.

Janna
Flo
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Re: Folge 115: Nichts

Beitrag von Flo »

Ich tu mir immer ziemlich schwer damit, wenn davon die Rede ist, ein Buch könnte Schüler schocken (oder wie auch immer man es nennen mag). Wenn ich an mich in dem Alter denke, dann hätte ich das eher mit einem Schulterzucken - wenn überhaupt - kommentiert. Und heute sind die Schüler noch dazu teils schon jahrelang Social Media und das Internet generell gewöhnt, plus diverse Streaming-Dienste. So hart kann ein Buch doch gar nicht sein? Für mich klingt das immer nach Debatten, die einzig Pädagogen und naive Eltern führen.
Oder bin ich es da, der naiv denkt?
Ironic Maiden
Beiträge: 153
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Re: Folge 115: Nichts

Beitrag von Ironic Maiden »

Janna hier. Dann erkläre ich mal, was im Podcast diesbezüglich vielleicht nicht so deutlich rüberkam:

Flo hat geschrieben: Sa 13. Mai 2023, 21:37 Ich tu mir immer ziemlich schwer damit, wenn davon die Rede ist, ein Buch könnte Schüler schocken (oder wie auch immer man es nennen mag). Wenn ich an mich in dem Alter denke, dann hätte ich das eher mit einem Schulterzucken - wenn überhaupt - kommentiert. Und heute sind die Schüler noch dazu teils schon jahrelang Social Media und das Internet generell gewöhnt, plus diverse Streaming-Dienste. So hart kann ein Buch doch gar nicht sein? Für mich klingt das immer nach Debatten, die einzig Pädagogen und naive Eltern führen.
Oder bin ich es da, der naiv denkt?
Das ist gar nicht naiv. Nur halt von der Warte der Einzelperson und der Einzelerfahrung aus gedacht. Ich muss bei der Planung nur mehr Aspekte berücksichtigen:

In jeder Klasse sind 27 bis 30 Schüler*innen mit teils völlig unterschiedlichen Medien- und Texterfahrungen. Natürlich gibt es da die, die aufgrund ihrer Erfahrungen oder ihrer Persönlichkeit weniger Probleme mit "härteren" Inhalten haben. Es gibt aber auch die, die sehr behütet aufgewachsen sind. Es gibt auch heute noch durchaus Schüler*innen, bei denen die Eltern den Medienkonsum restriktiv überwachen, oder die auch von sich aus kein Interesse an extremeren Inhalten als Schminktutorials haben. Und es gibt auch die, die einfach sensibler auf manches reagieren.

Und man muss mMn auch bedenken, dass die Schüler*innen nicht freiwillig in der Schule sind und den Text vorgeschrieben bekommen. Es ist was anderes, ob ich mich freiwillig für ein Uniseminar über Horrorliteratur einschreibe, oder ob ich gezwungen werde, einen Text zu lesen, der mir sehr unangenehm ist. Im Zweifel muss man da zwar durch, aber ich denke, dass ich das als Lehrerin schon im Hinterkopf haben sollte, bevor ich einen Text auswähle.

Dazu kommt, dass das, was Schüler*innen bisher an extremeren Inhalten gesehen haben, in der konkreten Ausprägung von Gewalt anders sein kann, als das mit dem die Lektüre sie konfrontiert. Ich schaue z.B. in der 10. Klasse oft "Das weiße Band" von Michael Haneke. Da sind immer etliche Schüler*innen irririert und provoziert. Und zwar nicht, weil es so explizite Darstellungen von Gewalt gibt, sondern weil die absolute Gnadenlosigkeit, mit der die Menschen dort miteinander umgehen, also die psychische Gewalt, für sie ungewohnt ist. Nur weil die Schüler*innen schon ihr Maß an Splatter, sei es real oder fiktional, gesehen haben, heißt das nicht, dass sie gegen alle Formen und Darstellungen von Gewalt "abgehärtet" wären.

Und dann kommt bei der Erwägung, ob eine Lektüre geeignet ist, noch dazu, inwiefern die Schüler*innen schon in der Lage sind, dass dargestellte zu reflektieren und darüber produktiv zu diskutieren. Und weil viele, gerade höhere Klassen, altersmäßig gemischt sein können, also in der gleichen Klasse Jugendliche zwischen 14 und 16 sitzen können, muss ich auch berücksichtigen, dass alle da zumindest die Möglichkeit haben, inhaltlich mitzukommen.

Ich bin ja gar nicht dagegen, dass Schüler*innen auch mal "schockiert" werden. Das gehört mMn zum Erwachsenwerden dazu, und ich finde es auch nicht schlimm, wenn ein Text mal länger hängen bleibt, weil er extremer war als das gewohnte. Man kann nicht ständig davon reden, Texte zu lesen, die für die Schüler*innen "relevant" wären, und dann nur so Friede, Freude, Eierkuchen-Kram nehmen. (Und ja, ich finde es falsch, "Krabat" nicht in der 7. Klasse zu lesen. Der Text ist gruselig, aber wer mit 12 noch Angst vor "Krabat" hat, muss sich vielleicht gerade mal mit diesem Text beschäftigen.)

Kurzum, ich hoffe, ich konnte die spezifischen Erwägungen ein bischen erläutern und etwas klären.


(Nur kurz zur Ergänzung, weil das ein pet peeve von mir ist: die meisten Lehrer*innen sind keine Pädagog*innen. Ich hatte im Studium genau zwei Veranstaltungen zu Pädagogik und im Referendariat fast nur Didaktik. Pädagogik ist ein eigenes Studium mit eigenen Schwerpunktsetzungen.)
Flo
Beiträge: 29
Registriert: Di 17. Nov 2020, 11:12

Re: Folge 115: Nichts

Beitrag von Flo »

Ironic Maiden hat geschrieben: So 14. Mai 2023, 08:45 Kurzum, ich hoffe, ich konnte die spezifischen Erwägungen ein bischen erläutern und etwas klären.
Vielen Dank dir für die ausführlichen Erläuterungen. Ich kann alle deine Überlegungen nachvollziehen.
Jetzt könnte man wohl die philosophische Frage stellen, ob es richtig ist, sich an dem Niveau der "sensibelsten" Glieder der Kette auszurichten. Rein praktisch ist es das wahrscheinlich, alleine um Stress mit Eltern, Kollegen, heftigen Reaktionen usw. zu vermeiden. Aber das ist ein anderes Thema.

(Nur kurz zur Ergänzung, weil das ein pet peeve von mir ist: die meisten Lehrer*innen sind keine Pädagog*innen. Ich hatte im Studium genau zwei Veranstaltungen zu Pädagogik und im Referendariat fast nur Didaktik. Pädagogik ist ein eigenes Studium mit eigenen Schwerpunktsetzungen.)
Ich dachte tatsächlich immer das wäre mehr. Interessant.
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