Zu dieser Folge kann ich hoffentlich mal etwas Substanzielles beisteuern
Bücher, die nie besprochen werden: Ich hatte ja die Ehre, in Bonusfolge 43 ein Buch zu empfehlen. Als Falko mich darum bat, kamen mehrere in meinen Kopf und zwei davon in die engere Auswahl. Meyerhoff habe ich letztlich empfohlen, aber ich will das zweite Buch nicht unterschlagen:
James Ellroy - White Jazz
Beide Bücher (Ellroy und Meyerhoff) habe ich vor der Folge nochmals gelesen und mir die Entscheidung nicht leicht gemacht. Ellroy wurde es dann nicht, obwohl ich sicher bin, dass Jochen es LIEBEN wird.
Warum wird Jochen es lieben?
In diesem Buch gibt es kein einziges überflüssiges Wort, also auch kein ADJEKTIV, das nicht sein muss. Es ist die maximal mögliche literarische Verdichtung. Ellroy beschreibt nichts, Personen werden fast gar nicht äußerlich beschrieben. Trotzdem hat man (oder ich) immer ein klares Bild vor Augen. Warum? Weil wir die Filme aus den 50er Jahren kennen, in denen die Geschichte spielt. Man denkt an bestimmte Schauspieler. Der Sprachrhythmus ist brutal, irgendwo zwischen Rap und Jazz.
Man denkt an die Klassiker des Hard Boiled Genres. Bloß: Alles ist härter. SEHR VIEL härter. Im Vergleich zu White Jazz wirken die "Hard Boilded"-Romane von Raymond Chandler (Philippp Marlowe) und Dashiell Hammet (Sam Spade, z.B. Der Malteser Falke, verfilmt mit Bogart) geradezu naiv. Das was Ellroy macht, ist wirklich Hard Boiled. Inklusive der Erzähl-Perspektive.
Der Ich-Erzähler ist nicht nur Cop, sondern auch ein bezahlter Auftragskiller des organisierten Verbrechens, und als wäre das nicht schon schlimm genug, ein Slum-Lord, der sexuelles Interesse an seiner eigenen Schwester hat. Es kam fast zum Inzest, wie wir als Leser sehr früh erfahren.
Doch was Ellroy gelingt ist, dass man zwar nicht wirklich Sympathien mit dem Ich-Erzähler Dave Klein hegt, aber voll und ganz mit ihm mitfiebert. Er wird von allen Seiten unter Druck gesetzt: Dem Mobsters, den Cops, dem FBI und zu allem Überfluss noch vom exzentrischen Multi-Millionär Howard Hughes. Ellroy verwebt gekonnt reale Historie und Figuren mit düsterer Crime-Novel. Man will als Leser/in, dass Dave Klein mit heiler Haut herauskommt! Man versteht seine Motive. Auch wenn man sie selbst nicht teilt.
Was am Ende herauskommt, ist der "schnellste" Roman, den ich je gelesen habe. Das Erzähltempo ist jenseits von Gut und Böse. Auf 100 Seiten dieses Romans passiert so viel, wie auf 500 Seiten eines Stephen King-Romans. Jochen würde für das lesen des Ellroy wahrscheinlich als einen regnerischen Nachmittag brauchen. Und am Ende steht man da und denkt: Wow, was für ein Ritt!
Aber kann ich dieses Buch uneingeschränkt empfehlen? NEIN. Dafür ist es zu hart und abgebrüht. Ich wollte etwas mit mehr Humor und Menschenliebe empfehlen in diesen düsteren Zeiten. Aber ganz ehrlich: Wenn ihr auf Hard Boiled und Film Noir steht, ist White Jazz ein Must Read!
Zum Thema Lesungen: ich bekomme als Sachbuch-Autor in der Regel um die 350 Euro. Ich habe aber schon für einen Hörgeräte-Hersteller einen Vortrag von 30 Minuten für über 1.000 Euro gehalten. Also wie Falko sagt: Das ist total individuell, je nach Auftraggeber. Es lohnt sich meistens nicht direkt finanziell, aber sehr wohl als Gesamterlebnis. Es ist etwas ganz Anderes, mit Leser/innen zu sprechen, als nur irgend einen Kommentar auf einem Social Media oder eine Rezension bei Amazon zu bekommen (die ich sowieso nicht mehr lese und bei Social Media bin ich auch nicht mehr).
Die Autorin von der Falko sprach: Chelsea Banning ist nach ihrem Komemntar über ihre missglückte Lesung und den Reaktionen von Stephen King und anderen Besteseller-Autor/innen auf Platz 1 der Bestseller-Liste gewandert. Das ist insgesamt spannender Diskurs, wie eine - wohl gemerkt - MISSGLÜCKTE Lesung Social Media beeinflusst hat und damit den tatsächliche Erfolg der Autorin, also auf das ECHTE Leben zurück gewirkt hat. Irgendwie bizarr: Echtes Leben beeinflusst digitales Leben und digitales Leben wirkt dann so auf das echte Leben zurück, dass alles durch die Decke geht. Was sagt das über unsere Zeit aus?
Viele Grüße und eine frohe Weihnachtszeit,
Thomas